Soziale Arbeit bloggt
Schöne technologisierte Welt 03.01.2023
Blogbeitrag von Anne Uphoff, Masterstudentin an der FHNW und Leiterin für Projekte mit Fokus auf die Stärkung des Sozialraums und der Generationensolidarität. Dieser Beitrag entstand als Reaktion auf die International Summer School 2022 an der Alice Solomon Hochschule in Berlin mit dem Thema „Digitization, Artificial Intelligence and Responsibility of Sciences“, an der leider keine Person aus der Sozialen Arbeit referierte.
Ein Blick in die technologisierte Zukunft
Der Megatrend Digitalisierung breitet sich rasant aus und verändert alle Lebensbereiche fundamental. Dabei wird Technik zunehmend allumfassend und betrifft alle Menschen direkt oder zumindest indirekt (vgl. Schmiedchen 2021: 15). Allert et al. (2017: 9) diagnostizieren diese Veränderung als eine immer engmaschigere „Verstrickung von Mensch, digitaler Technik und Gesellschaft“. Neuartige Informationstechnologien verbleiben nicht nur mehr im „Aussen“, sondern rücken dem menschlichen Individuum zunehmend „zu Leibe“ und wandern auch in das Innere der Körper. Dort ergänzen oder ersetzen Technologien biologische Funktionen und sogar Organe (vgl. Brunner 2021: 1).
In nicht allzu ferner Zukunft wird mit Praktiken wie Mind Uploading experimentiert werden. Andere Aspekte hingegen, wie die Erforschung universeller künstlicher Intelligenzen oder bio-technologische Entwicklungen befinden sich bereits heute in einem voranschreitenden Prozess.
Dieser digitale Transformationsprozess ist längst nicht abgeschlossen, sondern wird sich mit Hochgeschwindigkeit weiterentwickeln und könnte eine Auflösung der Grenzen zwischen Mensch und Technik nach sich ziehen, wie sie bisher in dieser Art und Weise noch zu keinem Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte erfahren wurde.
Visionen einer technologischen Entwicklung des Menschen
Mit dieser digitalen Transformation verbundenen möglichen Veränderungen des Menschen werden insbesondere in trans- und posthumanistischen Konzepten thematisiert, wobei sich diese vor allem hinsichtlich ihres Menschenbildes unterscheiden. So folgt etwa der technologische Posthumanismus der Ansicht, dass die absolute menschliche Schöpfung in Form der singularen Superintelligenz und ihre dann ohne menschliches Zutun geschaffenen „Nachkommen“ den Planeten regieren werden; nicht jedoch der Mensch selbst (vgl. Loh 2018: 123). Diese Vorstellung führt wiederum zu der normativen Forderung nach einer vollständigen Überwindung der Menschheit durch technologische Erfindungen. Selbstredend sollte es seitens der Sozialen Arbeit kategorisch abgelehnt werden, dass die Menschheit in ihrer biologischen Evolution überwunden und durch eine künstlich erschaffene Lebensform ersetzt werden soll.
Im Gegensatz dazu legt der Transhumanismus die humanistische Grundposition nicht ab und strebt an, das menschliche Leben und Wohlergehen durch technologische Entwicklungen zu verbessern sowie körperliche Potenziale zu erweitern (vgl. ebd.: 43). Gewiss sind auch in transhumanistischen Zukunftsvisionen neue soziale Probleme zu erwarten. Diese betreffen etwa Fragen der Gerechtigkeit und Ermöglichung von Teilhabe an lebensverbessernden respektive -verlängernden Massnahmen oder Gefahren der Diskriminierungen durch Algorithmen.
Soziale Arbeit sollte sich jedoch frühzeitig mit den bevorstehenden Entwicklungen auseinandersetzen, um die Einflüsse technologischer Veränderungen auf die Gesellschaft mitgestalten zu können und nicht nur ihre weitreichenden und womöglich gravierenden sozialen Problemlagen aufzuarbeiten.
Worin liegt die Verantwortung der Sozialen Arbeit?
Als Menschenrechtsprofession ist die Soziale Arbeit gefordert, den technologischen Wandel aufgrund der vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten und Herausforderungen und der damit verbundenen Konsequenzen für das Wohlbefinden der Menschen zu einem zentralen Gegenstand von Praxis, Theoriebildung und Ausbildung zu machen. Bisher nimmt die Profession diese Verantwortung noch nicht in einem ausreichendem Masse wahr, denn das Verhältnis von Technik und Profession zeigt sich einstweilen höchst ambivalent, obwohl die Auswirkungen der technologischen Entwicklung in vielen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit und im persönlichen Alltag der Fachkräfte sehr wohl präsent sind: „So kann im Wesentlichen von einer – zwischen Technikeuphorie und -skepsis changierenden – Techniknaivität der Praxis und einer parallelen Technikblindheit der Forschung in der Sozialen Arbeit gesprochen werden“ (Kutscher et al. 2015: 6). Dementsprechend präsentieren sich die Kompetenzen von Sozialarbeitenden noch immer so heterogen wie die Aufgabenfelder Sozialer Arbeit selbst und einer Vielzahl von Fachpersonen fehlt es schlichtweg an Kenntnissen und Interesse hinsichtlich technologischer Neuerungen. Infolgedessen wird trans- und posthumanistischen Debatten seitens der Sozialen Arbeit derzeit noch kaum Beachtung geschenkt und erst recht mangelt es an einer aktiven Mitgestaltung des Diskurses zu ethischen Aspekten der technologischen Neuerungen.
Literaturangaben:
- Allert, Heidrun/Asmussen, Michael/Richter, Christoph (2017). Digitalität und Selbst: Einleitung. In Allert, Heidrun/Asmussenm Michael/Richter, Christoph (Hg.). Digitalität und Selbst. Interdisziplinäre Perspektiven auf Subjektivierungs- und Bildungsprozesse Bielefeld: transcript. S. 9–23.
- Brunner, Alexander (2021): Soziale Arbeit in der Perspektive von trans- und posthumanistischen Diskursen. In: Freier, Caroline /König, Joachim/Manzeschke, Arne/Städtler-Mach, Barbara (Hg.). Gegenwart und Zukunft sozialer Dienstleistungsarbeit. Chancen und Risiken der Digitalisierung in der Sozialwirtschaft. Reihe: Perspektiven Sozialwirtschaft und Sozialmanagement. Wiesbaden: Springer VS. S. 433-446.
- Kutscher, Nadia/Ley, Thomas/Seelmeyer, Udo (2015). Mediatisierung (in) der Sozialen Arbeit. In: Kutscher, Nadia/Ley, Thomas/Seelmeyer, Udo (Hg.). Mediatisierung (in) der Sozialen Arbeit Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. S. 3-15.
- Loh, Janina (2018). Trans- und Posthumanismus zur Einführung. Hamburg: Junius.
- Schmiedchen, Frank (2021). Wer handeln will, muss Grundlagen und Zusammenhänge verstehen - Eine Einleitung. In: Schmiedchen, Frank/Kratzer, Klaus P./Link, Jasmin S. A./Stapf-Finé, Heinz (Hg.). Wie wir leben wollen: Kompendium zu Technikfolgen von Digitalisierung, Vernetzung und Künstlicher Intelligenz. Berlin: Logos Verlag. S. 11-21
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Soziale Arbeit und radikal egalitäre Demokratie 15.11.2022
Blogbeitrag von Beat Schmocker, Sozialarbeiter und Sozialarbeitswissenschaftler aus Luzern
Die jüngste Pandemie und der verheerende Krieg gegen die Ukraine liessen Stimmen laut werden, die mahnen: Die Demokratie sei in Gefahr, die demokratischen Grundideale würden verraten und die Errungenschaften der Aufklärung zunehmend aufgegeben.
Die Massnahmen, die verschiedene Regierungen als Antwort auf die Pandemie ergriffen, waren dem Versuch geschuldet, eine Balance zwischen dem Schutz der besonders Verletzlichen und dem Erhalt der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu finden. Dabei sind mitunter demokratische Standards arg gedehnt worden
Und der Angriffskrieg, der zurzeit in der Ukraine wütet, bringt den Bürger*innen und allen Menschen, die dort leben, vor allem unermessliches Leid. Hierzulande mögen wir ihn als einen brachialen Angriff gegen die Idee der Demokratie erleben, und nach spontanen Impulsen der Solidarität mag sich da und dort auch die Einsicht breitmachen, dass es an uns ist, die Demokratie zu verteidigen, und zwar genauso gegen die äusseren als auch gegen die inneren Bedrohungen.
Der Beitrag "Soziale Arbeit 0und radikal egalitär Demokratie" von Beat Schmocker handelt davon und was das alles mit Sozialer Arbeit zu tun und welche Vision wir dazu aufbauen könnten.
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Gehörlose ukrainische Flüchtende 28.09.2022
Blogbeitrag von Franziska Müller, Sozialarbeiterin bei der Beratung für Schwerhörige und Gehörlose in Zürich
Ankunft und erste Beratungen
Im März dieses Jahres wurden wir auf der Beratungsstelle in Zürich von gehörlosen ukrainischen Flüchtlingen fast überrannt. Durch die relativ grosse Gehörlosen-Gemeinschaft in Zürich hatten diese erfahren, dass in und um Zürich viele Gehörlose wohnen, es eine Schule für gehörlose Kinder gibt und dazu viele Angebote wie eben unsere Beratungsstelle.
So kam es, dass kurz nach dem Kriegsbeginn in der Ukraine, ganze Grossfamilien oder Gemeinschaften von gehörlosen ukrainischen Personen bei uns in der Beratungsstelle standen und um Hilfe baten.
Sie kamen teils mit ihren eigenen Autos an, aber auch mit Bussen oder sie reisten mit dem Zug und fanden den Weg direkt vom Hauptbahnhof zu uns. Da wir noch keinerlei Infos hatten zum Aufenthalt, geschweige denn wo all diese Personen wohnen könnten, mussten wir spontan und schnell handeln.
In Zusammenarbeit mit mehreren Institutionen, die sich im Bereich für Gehörlose oder Schwerhörige einsetzen, haben wir zusätzliche Zeit investiert und beraten, vermittelt, teils begleitet und vor allem viel unterstützt bei administrativen Formalitäten. Die Verständigung war und ist schwierig, da neben der Gehörlosigkeit auch eine andere Gebärdensprache, die ukrainische Muttersprache und eine andere Schrift, sprich das kyrillische Alphabet benutzt wird. Mit der Hilfe von gehörlosen Mitarbeitenden, aber auch mit Übersetzungs-Apps, versuchten wir die Anliegen und Fragen so gut es geht zu beantworten.
Zusammenarbeit mit verschiedenen Fachstellen
Ein sehr grosser Aufwand war und ist der Austausch mit den verschiedenen Fachstellen wie der Asylorganisation (AOZ), dem Staatssekretariat für Migration (SEM), dem Veterinäramt, den Gemeinden usw. Denn: wo sollten diese Personen wohnen? Dürfen Familien mit Grossmüttern, Tanten usw. zusammenbleiben? Was ist mit den Haustieren, die sie mitgenommen hatten? Können die gehörlosen Familien mit hörbehinderten Kindern in der Nähe der Schule wohnen, wo sie mit anderen gehörlosen Kindern zusammen sind? Wo erhalten die Personen Kleider, Essen, Kinderwagen, Spielzeug usw.?
Und wer organisiert und bezahlt die Gebärdensprach-Dolmetschenden, wenn gehörlose Flüchtende beim SEM befragt werden? Wer übernimmt die Kosten wenn jemand krank ist und Medikamente braucht, zum Arzt oder ins Spital muss?
All diese Fragen haben wir aufgenommen und nach bestem Wissen abgeklärt. Dabei mussten wir viel Sensibilisierungsarbeit leisten, was es für eine gelingende Kommunikation braucht, denn die Mitarbeitenden von Behörden und Fachstellen waren oft ahnungslos zum Thema Gehörlosigkeit und selber bereits überlastet.
Anfangs konnten einige Familien vorübergehend in einer Sporthalle wohnen und so unter sich bleiben. Oder sie wurden in Kirchgemeindehäusern und von Privaten aufgenommen. Die gehörlosen Geflüchteten schätzten das sehr, insbesondere weil sie sich in der Gebärdensprache und ihrer Kultur austauschen konnten.
Wir informierten in Einzelgesprächen, und in einem Vortrag für eine grosse Gruppe über verschiedene wichtige Themen wie Schutzstatus S, wie die Einteilung in die verschiedenen Wohngemeinden vor sich geht, warum die mitgebrachten Tiere beim Tierarzt gegen Tollwut geimpft werden müssen und anderes mehr. Von Seite der Flüchtenden bestand und besteht ein grosses Bedürfnis nach einer barrierefreien Kommunikation. So organisierten wir auch Gruppenanmeldungen mit Übersetzung in Gebärdensprache bei der Anmeldung im Bundesasylzentrum und beantworteten immer wieder viele Fragen.
Aktuelle Situation und weitere Schritte
Inzwischen sind die meisten Familien und Einzelpersonen untergebracht und beziehen Sozialhilfe. Krankenkassen- und andere Versicherungsfragen sind geklärt oder werden laufend aufgenommen. Neue Anliegen sind gewünschte Wohnortswechsel aus unterschiedlichsten Gründen, Unterstützung bei der Arbeitssuche oder Deutschunterricht in Gebärdensprache.
Vor einigen Monaten haben wir bei der Beratungsstelle eine regelmässige Ukraine-Sprechstunde eingerichtet, in der sich einmal wöchentlich für 3 Std. jemand Zeit nimmt und die Anliegen der Flüchtlinge annimmt. Weiterhin gibt es viele Fragen und Wünsche und wir beraten, vermitteln und erklären so gut es geht.
Dabei dürfen alle unsere anderen Klient*innen aber nicht zu kurz kommen und werden weiterhin wie gewohnt beraten – das ist manchmal eine grosse Herausforderung!
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Wir brauchen eine rassismuskritische Jugendarbeit 24.08.2022
Blogbeitrag von Sofia Sommer, Jugendarbeitende in einer Zürcher Gemeind
Arbeit in einem Jugendtreff ist kein Germanistikseminar. Sexistische und homophobe Beleidigungen sind Teil einer mitunter derben Jugendsprache, welche zum herausfordernden Alltag von Jugendarbeitenden gehört. Das musste ich in meinem Praktikum in diesem Arbeitskontext schnell lernen. Sprache, die grundsätzlich mit den Werten des Hauses im Widerspruch steht. Deshalb wurden solche Auseinandersetzungen nicht selten Wort für Wort in unserem Team nachbesprochen und über verbale Grenzziehungen nachgedacht.
«Nicht nur R. spricht so, alle sprechen so. Das ist Jugendsprache.»
In einer dieser Teamsitzungen wurde folgende Aussage des Jugendlichen R. (15) nachbesprochen: «Ey, lueg dich a du Schlampe. Was man du wotsch mir de Billardschläger weg ne? Was meinsch du wer du bisch? Du seisch mir gar nüt!» R. verstiess nicht zum ersten Mal gegen die Hausordnung; bedrohte andere Besuchende; deutete an, dass er bewaffnet sei; musste deshalb unseren Jugendtreff verlassen; worauf er die Jugendarbeiterin, die ihn dazu aufforderte, wüst beschimpfte. Die Diskussion in unserem Team lief über alle Ecken möglicher Perspektivierungen: von «R. entstammt schwierigen familiären Verhältnissen, hat Leistungsschwierigkeiten und ist aktenkundig» zu «Nicht nur R. spricht so, alle sprechen so. Das ist Jugendsprache.» bis hin zu «Er will einfach schockieren. Er sucht Reibung, Aufmerksamkeit.». Was mich jedoch völlig perplex zurück liess, war der Kommentar der Jugendarbeiterin: «R. hat einen Migrationshintergrund und damit ein anderes Frauenbild. Das ist seine Kultur – wir können nicht einfach unsere westlichen Massstäbe für ihn anwenden.»
Die Situation zeigte mir, wie leicht, unbeabsichtigt und in ihrer Wirkung dennoch verheerend solche Aussagen getätigt werden. Problematisch ist die Aussage deshalb, weil das Label «mit Migrationshintergrund» in dieser Verwendung rassistisch ist. Die Jugendarbeiterin ordnete R. aufgrund von äusseren Merkmalen einer homogenisierten Gruppe zu und verknüpft diese mit kulturspezifischen Eigenschaften bzw. einem spezifischen Verhalten.
Rassistische Denk- und Handlungsmuster funktionieren deshalb, weil sie die menschliche Schwäche für Muster zur Komplexitätsreduktion und beschleunigten Wahrnehmung der Realität ausnutzt. Dazu kommt, dass diese Kategorien hierarchisch geordnet sind. Jugendliche, die der Gruppe «mit Migrationshintergrund» zugeordnet sind, werden anders bewertet; indem vermeintlich gruppentypische Attribute aktiviert werden. So wird ihnen bspw. ein anderer Umgang mit Frauen zugeschrieben, der mit der vermuteten Zugehörigkeit zu einer patriarchalen und frauenverachtenden Kultur begründet wird (El-Mafaalani, 2021, S. 59; Bronner & Paulus, 2017, S. 57-58).
Damit ist es nicht das sexistische Verhalten von R., das verschiedene Ursachen haben kann, sondern das kulturtypische Verhalten einer Gruppe von Menschen, welcher der junge Mann aufgrund äusserlicher Merkmale zugeordnet wird. Solche Kategorisierungen funktionieren ungeachtet des Vorzeichens des sozialen Verhaltens. Erbringt ein Jugendlicher «mit Migrationshintergrund» eine gute Leistung, so wird auch diese oft einer fiktiven kollektiven Kompetenz, «seiner Kultur» zugeschrieben: L. kocht gut, weil er Italiener ist; S. tanzt gut, weil sie Kamerunerin ist; V. singt gut, weil er Spanier ist.
Rassismus beeinflusst die Mitte der Gesellschaft und damit auch die Jugendarbeit.
Eine kritische Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, in welche Jugendarbeit eingebunden ist und die Arbeit an rassistisch geprägten Vorstellungen ist dringend notwendig. Das Erkennen und Verändern von eigenen rassistischen Denk- und Handlungsmustern ist dabei eine besondere Herausforderung. Um Jugendlichen glaubhaft Werte zu vermitteln, ist eine Haltung, die jegliche Formen von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ablehnt, unerlässlich Um diese Vorbildfunktion wahrzunehmen, sollten Sozialarbeitende folgende vier Forderungen an sich stellen:
- Ich verstehe eine diskriminierungskritische Haltung als Bestandteil meiner Professionalität
- Ich habe grundlegendes Wissen über Rassismus und kenne die typischen Erscheinungsformen von Rassismus im Alltag
- Ich erkenne meine eigene Involvierung: vereinfachende Welterklärungen und vorurteilbehaftetes Denken, das Jugendliche als «Andere» markiert
- Ich entwickle eine eigene Haltung gegen Rassismus
Hätte ich damals schon die nötigen Worte gehabt, hätte ich interveniert.
Denn wollen wir tatsächlich gegen Rassismus vorgehen, müssen wir diesen an den – strukturellen und institutionellen – Wurzeln packen. Indem wir Personen wie R. als Menschen auf untragbaren Sexismus ansprechen; und Kolleginnen wie diese Jugendarbeiterin auf den unterschwelligen Rassismus hinweisen. Nur so werden wir meiner Meinung nach Menschen als Individuen gerecht.
Dieser Blog von Sofia Sommer basiert auf dem Essay: «mit Migrationshintergrund» ist ein problematisches Label, verfasst im Rahmen des Moduls Gesellschaftliche Transformationsdynamiken und Migration an der OST – Ostschweizer Fachhochschule für Soziale Arbeit.
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Sensibilisierung im Alltag für Menschen mit Hörbehinderung 06.04.2022
Blogbeitrag von Franziska Müller, Sozialarbeiterin bei der Beratung für Schwerhörige und Gehörlose in Zürich
Gehörlosigkeit und Schwerhörigkeit
Sehr häufig erwähnen meine hörbehinderten Klient*innen, dass sie nach der Arbeit oder Schule sehr müde oder völlig erschöpft sind. Das lässt mich immer aufhorchen, denn mit einer Hörbehinderung ist dies ein Dauerthema. Natürlich bin ich abends nach der Arbeit auch müde und muss mich vielleicht aufraffen, noch zum Sport zu gehen.
Für gehörlose oder schwerhörige Personen jedoch ist diese Müdigkeit viel ausgeprägter, sie sind nach einem Arbeitstag oft energielos und brauchen Ruhe und Erholung, auch für ihre Ohren und Augen.
Nicht oder schlecht zu hören bedeutet auch immer, bei der Kommunikation zusätzlich auf das Mundbild, die Mimik und die Gesten der anderen zu achten. Auch können unerwünschte Geräusche wie Telefonklingeln, Kirchenglocken usw. mit Hörgeräten nicht so einfach gefiltert werden, wie das natürlich hörende Ohren können. Diesen Schwierigkeiten sind sich viele Menschen nicht bewusst, die mit einer betroffenen Person im Kontakt sind. In meiner Beratung erlebe ich den täglichen Frust über Situationen, die überfordernd oder, aus verschiedenen Gründen, nicht der hörbehinderten Person angepasst sind.
Beispiel 1: Gehörlose mit Beistandschaft
Heute erreichte mich ein Telefonanruf einer Beiständin: Sie kann partout nicht verstehen, warum die verbeiständete ältere gehörlose Frau nicht allein zu ihrem Optiker kann, um die Brille abzuholen. Ich versuchte ihr zu erklären, dass dies ein grosser Stress für die Dame wäre. Wenn diese allein unterwegs ist, muss sie stark auf den Verkehr achten. Sie hört die Autos nicht, die halten müssen, um sie über den Zebrastreifen zu lassen und anschliessend muss sie den Bus besteigen, was für sie beschwerlich ist.
Im Optiker-Geschäft dann, sollte sie mitteilen, dass sie nur die Brille abholen möchte – doch wie erklären, wenn sie nur die Gebärdensprache und nur wenig Deutsch kann?
Es ist möglich, dass die Dame am Empfang etwas aufschreibt, weil sie denkt, schriftlich sei die Kommunikation sicher möglich. Das ist jedoch längst nicht immer der Fall. Die genannte gehörlose Frau kann kaum Deutsch lesen und schon gar nicht schreiben.
In diesem Fall wäre eine Begleitung angezeigt, die mitgeht, hilft zu verstehen und sich für die Klientin einsetzt. Dass eine Begleitung durch eine Fachperson der Sozialen Arbeit oder eine kulturvermittelnde Person eingesetzt wird, ist zwar kostenpflichtig, jedoch für die Betroffenen eine grosse Unterstützung.
Beispiel 2: Gehörlose im Spital
Wenn eine gehörlose Person ins Spital eintritt, braucht es meistens eine Übersetzung in Gebärdensprache, damit alle Details genau besprochen und verstanden werden. Das Spital kann eine Dolmetschende bestellen über die Firma Procom und muss auch die Rechnung übernehmen, da es eine öffentliche Institution ist. Wir stellen fest, dass es manchmal an Wissen (oder an Willen) fehlt, dass eine Übersetzung notwendig ist. Das ist dann sehr mühsam und ärgerlich, weil es viele Telefonate braucht mit verschiedensten Personen und diese je nach Abteilung immer wieder wechseln. Oft müssen wir sogar die gesetzlichen Grundlagen zustellen, um zum Ziel zu kommen.
Noch schwieriger wird es, wenn ein Notfall eintritt und schnell eine Gebärdenübersetzung nötig ist. Das kann zu viel Stress führen, da es schwierig ist, innert Kürze eine dolmetschende Person zu finden. So ist ein Spitaleintritt oder -aufenthalt für die Betroffenen noch zusätzlich mit Unannehmlichkeiten verbunden. Wir von der Beratungsstelle versuchen dann anwaltschaftlich ihre Rechte durchzusetzen.
Sensibilisierung durch die Beratungsstelle
Neben den Hilfeleistungen wie in den erwähnten Beispielen, bieten wir als Beratungsstelle Sensibilisierungs-Veranstaltungen vor Ort an und informieren darüber, worauf bei einer Zusammenarbeit oder Unterstützung mit oder für hörbehinderte*n Menschen geachtet werden sollte. Arbeitgebende können so ihr Team zu einem bewussteren und einfacheren Umgang mit der oder dem hörbehinderten Mitarbeitenden einladen. Ein Sozialamt kann ebenso von der Sensibilisierung profitieren wie eine Schule, ein Spital oder eine Polizeistation. Alles was unseren Klient*innen im täglichen Leben mehr Verständnis einbringt, ist für sie entlastend und von grosser Bedeutung.
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Sozialer Wandel und Innovation in der Sozialen Arbeit – Try again. Fail again. Fail better. 24.02.2022
Blogbeitrag von Eric M. Ryhiner, Sozialpädagoge in Ausbildung in einer Institution für Erwachsene mit psychischen oder kognitiven Beeinträchtigungen sowie Masterstudent an der Hochschule für Soziale Arbeit (FHNW).
Im letzten Semester an der FHNW besuchte ich einen Kurs zum Thema soziale Innovation. Inhaltlich umriss der Kurs ein breites Spektrum an Themenfeldern, angefangen bei der Bevölkerungsentwicklung, über Globalisierung bis hin zu den sich verändernden Aufgaben des Sozialstaats. Wir befassten uns mit dem systemischen Zusammenhang zwischen sozialem Wandel, sozialer Innovation und Organisationen der Sozialen Arbeit und wie sie sich gegenseitig beeinflussen. Dabei stellte ich mir die Frage, was denn genau soziale Innovation ist. Geoff Mulgan, ein Pionier im Bereich der sozialen Innovation, hat sich wissenschaftlich mit dieser Frage auseinandergesetzt. Er hielt fest, dass uns der historische Blick auf den sozialen Wandel zeigt, dass der Wandel von gelegentlichen Schüben und langen Phasen der Stagnation geprägt ist (vgl. Mulgan, 2019: 9). Eine soziale Bewegung kann sich über Jahrzehnte hinweg still aufbauen, um dann, wenn die Zeit reif dafür ist, plötzlich auszubrechen. Als jüngste Beispiele dafür können die Fridays for Future Bewegung, welche die Politik auffordert, die globale Erwärmung einzudämmen oder die Black Lives Matter Bewegung, welche aufgrund des durch Polizeigewalt verursachten Todes von George Floyd kräftigen Anschub erhielt, genannt werden.
Betrachtet man die Soziale Arbeit, werden die Innovationen der Vergangenheit als selbstverständlich angesehen, obwohl ihnen jahrzehntelange Auseinandersetzungen zwischen Befürworter*innen und Gegner*innen vorhergegangen waren.
Die Entwicklung neuer UN-Konventionen, welche als Erweiterung der Menschenrechte gewertet werden können, basiert auf langjährigen politischen Prozessen. Und selbst nach ihrer Verabschiedung dauert es meist noch sehr lange, bis sie auf kantonaler Ebene umgesetzt werden und damit bemerkbare Auswirkungen auf ihre Zielgruppe haben. Ein gutes Beispiel dafür ist die UN-Behindertenrechtskonvention von 2006. Gemäss dem Bericht zur Behindertenpolitik im Kanton Bern 2016 sei eine Veränderung in der Gesellschaft im Umgang mit Menschen mit Behinderung erkennbar. «Gegenüber der traditionellen Versorgungslogik, die Behinderung mit individuellen Defiziten und mit Bedürftigkeit assoziiert, werden vermehrt die Chancengleichheit, die soziale und berufliche Teilhabe und Partizipation ins Zentrum gerückt» (Detreköy, et al. 2016: 10). Dies kann als sozialer Wandel gewertet werden, der sich u.a. auf Institutionen auswirkt, die Menschen mit Behinderung betreuen und begleiten. Der Kanton Basel-Stadt betreibt seit 2021 eine eigene Fachstelle für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, um das erste kantonale Behindertengleichstellungsgesetz umsetzen zu können (vgl. Kantons- und Stadtentwicklung, o.J.). Zwischen der Verabschiedung der Revision und Gründung der eigenen Fachstelle für Behindertenrechte in Basel sind also nochmals 15 Jahre vergangen. Diese Zahlen zeigen deutlich auf, wie politische Prozesse, die Innovationen in der Sozialen Arbeit, die sich durchsetzen, zusätzlich bremsen. Bis solche Innovationen schliesslich im Berufsalltag integriert sind, vergehen weitere Jahre.
Denn Innovation spielt sich auch wesentlich in den Köpfen der Personen ab, die sie umsetzen sollen und verursachen dabei nicht selten grosse Widerstände.
Seit August letzten Jahres arbeite ich in einer Institution für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen. Auch in dieser therapeutischen Wohngemeinschaft wurden soziale und berufliche Teilhabe, Partizipation sowie Selbstbestimmung in den letzten Jahren stärker in den Fokus gerückt. Um diese Werte auch mit Leben zu füllen und im Alltag der Adressat*innen zu implementieren, finden regelmässige Bezugspersonengespräche statt, welche die Evaluation der kooperativ entwickelten Förderziele zum Inhalt haben. Wenn ich dann jeweils versuche mit den Adressat*innen die Entwicklung ihrer Feinziele zu besprechen, kommt mir Widerwillen, Trotz und Zorn entgegen. Ich frage mich dann, wer von dieser Innovation mehr profitiert. Ich als Fachperson der Sozialen Arbeit, der sich in seinem methodischen Handeln bestätigt fühlt oder die Adressat*innen, die sich bezüglich Partizipation, Selbstbestimmung und sozialer Teilhabe gestärkt fühlen sollen? Sämtliche dieser kooperativen Interventionen beruhen auf dem Prinzip von Versuch und Irrtum. Der Grossteil der Eingriffe scheitert jedoch beim ersten Anlauf und ich motiviere mich mit Becketts Mantra: «Try again. Fail again. Fail better.»
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Quellen
Detreköy, C., Steiner, E., & Zürcher, T. (2016). Behindertenpolitik im Kanton Bern 2016. Bern: Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kantons Bern.
Kantons- und Stadtentwicklung. (o.J.). Rechte von Menschen mit Behinderung. Retrieved Januar 3, 2022, from https://www.entwicklung.bs.ch/behindertenrechte
Mulgan, G. (2019). Social Innovation. How societies find the power to change . Bristol: Policy Press.
Jugendarbeit in Zeiten einer Pandemie 12.01.2022
Blogbeitrag von Michael Koger, Sozialpädagoge HF und Leiter Fachstelle Jugend in einer Zürcher Gemeinde.
Nach dem Lockdown im Frühling 2020 rannten uns die Jugendlichen regelrecht die Bude ein. Die Jugendlichen wollten raus aus ihrem Zuhause und wollten wieder das machen, was Jugendliche ebenso machen, wenn nicht grad eine Pandemie die Welt im Griff hat. Wir hatten im Jugendtreff Rekordzahlen, es kamen teilweise bis zu 100 Jugendliche an einem Abend. Das Inventar wurde massiv belastet und die Jugendarbeitenden waren vorwiegend mit Aufsichtsaufgaben konfrontiert. Vertiefte Gespräche mussten ausserhalb des Treffs stattfinden. Der Innen- und Aussenraum musste fast jeden Abend gereinigt und geräumt werden. Es war die Hölle los.
Dann kam die Zertifikatspflicht für alle über 16 Jahre. Vielen Jugendlichen versperrte diese Massnahme die Möglichkeit in den Jugendtreff zu kommen, an Veranstaltungen teilzunehmen und Hilfsangebote der Fachstelle Jugend in Anspruch zu nehmen. Nicht wenig Jugendliche standen ab dann bei uns vor der Tür und bekundeten ihren Unmut darüber, dass sie während der kalten Jahreszeit nicht reindürfen.
Jugendliche, bei denen wir wussten, dass sie in schwierigen, familiären Verhältnissen leben, mussten wir wieder nach Hause schicken oder sie hielten sich einfach draussen im Regen und der Kälte auf.
Es war und ist nach wie vor eine schwierige Situation für Jugendliche ohne Zertifikat. Und für die Jugendarbeitenden, die meistens genau jene Jugendliche wieder nach Hause schicken müssen, für die sie eigentlich besonders da sein wollen.
Pandemie und Pubertät – eine problematische Kombi
Die Berichte aus den Medien und die Rückmeldungen aus den Kinder- und Jugendpsychiatrien zeigen auf, wohin die Langzeitfolgen der Pandemie hinführen. Stationäre Plätze sind besetzt, es gibt Wartelisten für psychologische Abklärungen und Hilfsangebote, die immer knapper werden. Ebenso melden die Suchtberatungen eine massive Zunahme von Anfragen von Jugendlichen, die Hilfe benötigen. Der Stresslevel der gesamten Schweizer Gesellschaft ist durch die Corona-Pandemie gestiegen. Nun können wir Erwachsenen uns wahrscheinlich nur schwer vorstellen, was diese Zunahme von Stress für Jugendliche bedeutet. In einer Lebensphase, in der der Stresspegel schon aufgrund der Hormone, den gesellschaftlichen Erwartungen und der Entwicklung einer eigenen Identität sehr hoch ist.
Und nun müssen wir so viele Jugendliche abweisen, wir dürfen sie nicht reinlassen, können ihnen kein Angebot machen. Wir sehen sie draussen herumstehen und versuchen natürlich, mit ihnen in Kontakt zu bleiben. Doch bei vielen Jugendlichen ist uns dies nicht gelungen.
Der Kontakt bricht ab und wir wissen nicht, wie es ihnen geht und wo sie sich aufhalten.
Ich will nicht schwarzmalen, vielleicht geht es ihnen gut und sie kommen bestens klar. Doch sicher sind wir uns nicht. Denn oft können nun genau jene Jugendlichen nicht mehr rein, die fast jeden Tag bei uns im Treff standen. Und wo stehen sie wohl jetzt?
Wie wird der Blick zurück der heutigen Jugend sein?
Es ist – wie wohl in vielen Branchen aktuell - etwas frustrierend, Jugendarbeit zu leisten. Wir bauen Beziehungen auf und können sie nicht halten, wir planen Veranstaltungen und können sie nicht durchführen und wir müssen Ideen der Jugendlichen abweisen, weil sie aktuell nicht umgesetzt werden können. Ich bin unglaublich froh, in den letzten zwei Jahren kein Teenager gewesen zu sein und es tun mir alle Jugendlichen leid, die um wichtige Erfahrungen gebracht wurden. Wie oft denke ich mit alten Jugendfreund*innen an die "guten alten Zeiten" zurück, an unbeschwerte Partys, Kurztrips, Festivals... Werden die Jugendlichen von heute auch mal in Erinnerungen schwelgen oder wird es eher einfach immer nur das Thema Pandemie sein - Corona hier, Corona da, Corona überall?
Ich kann alle Jugendlichen, die die Nase voll haben, sehr gut verstehen. Wir haben viel versucht für sie zu tun. So haben wir einen Bauwagen umgebaut, waren draussen aufsuchend unterwegs, oder haben Feuerschale Aktionen gemacht - doch auch all das hat den Jugendlichen ihr Jugendhaus nicht ersetzt. Das Einzige was wir Jugendarbeitenden aktuell tun können, ist versuchen, so gut wie möglich für sie da zu sein und gemeinsam dafür zu sorgen, dass die Jugendlichen wieder einen möglichst „normalen“ Weg gehen können.
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Von der Praxis inspirieren lassen – Mein Besuch in einer geschlossenen Abteilung 06.12.2021
Blogbeitrag von Tobias Bockstaller, Verantwortlicher Fachliche Grundlagen, AvenirSocial.
Als Verantwortlicher Fachliche Grundlagen von AvenirSocial wirkt mein Arbeitsort eigentlich nicht sehr spannend. Meist bin ich im Büro am Computer, muss viel hirnen, lesen und schreiben. Trotzdem muss meine Arbeit so nahe wie möglich an der Praxisrealität unterschiedlicher Arbeitsbereiche der Sozialen Arbeit bleiben. Mittlerweile weiss ich, dass genau dieser Spagat die grösste Herausforderung meiner aktuellen Funktion bei AvenirSocial ist. Ich habe mir daher verschiedene Möglichkeiten überlegt, diese Praxisnähe aufrecht zu erhalten. Eine davon ist, dass ich mehrmals pro Jahr tageweise Institutionen im Bereich der Sozialen Arbeit besuche. Dies ermöglicht mir, im direkten Kontakt mit Fachpersonen und Adressat*innen, den Einblick in Themen, die sie im Alltag bewegen. Für meinen letzten Besuch konnte ich einen Tag lang auf einer geschlossenen Abteilung für Jugendliche in zivil- und strafrechtlichen Massnahmen mitarbeiten. Ich war vor dem Besuch ziemlich angespannt, da ich keine Ahnung hatte, was mich an diesem Tag erwarten würde. Zwar habe ich als Soziokultureller Animator lange mit Jugendlichen gearbeitet, allerdings immer im freiwilligen Rahmen und nie in einem Zwangskontext.
Als ich vor Ort ankam, war ich überrascht, wie schnell und unkompliziert ich in den Tagesablauf eingebunden wurde.
Ich durfte in allen Momenten, wie Übergaben, Gruppenstunden, Essen, Freizeit und Tagesrückblicken vorbehaltlos dabei sein und aktiv teilnehmen. Ich fühlte mich als Fachperson sofort integriert und ernstgenommen. Trotz dieser geschlossenen Strukturen und den Hintergründen der Jugendlichen, häufig mit Heim-Biografien und einschneidenden, schweren Straftaten, habe ich mich im Umgang mit ihnen von Anfang an wohl gefühlt. Es schien mir, als ob viele Umgangsformen und Arbeitsweisen, die ich aus dem freiwilligen Kontext kenne, auch in diesem Setting genauso funktionierten. Ich kam sehr schnell mit ihnen ins Gespräch und ich war auch über den offenen Umgang der Jugendlichen mit ihren eigenen Taten erstaunt. Man merkte, dass sie sich täglich mit ihren begangenen Taten auseinandersetzen müssen. Oft vergass ich, dass wir uns in einem geschlossenen Setting befinden und sprach die Jugendlichen auf positive Momente in ihrem Alltag an. Sie meinten dann jeweils mit einer guten Portion Ironie, ob ich vergessen habe, dass sie hier eingeschlossen seien.
Gleich zu Beginn wurde mir erklärt, dass die Jugendlichen gelegentlich «auf Kurve» gehen. Doch wie kann das in einer geschlossenen Abteilung möglich sein? Und wie gehen die Sozialpädagog*innen damit um? Je nachdem wie «gut» sich die Jugendlichen verhalten, dürfen sie nach einer bestimmten Zeit wieder gemeinsam mit den Sozialpädagog*innen ausserhalb der Institution Sport machen. Dies bietet die Möglichkeit zu türmen. Ich bin schwer beeindruckt, mit welcher Selbstverständlichkeit und Professionalität die Mitarbeitenden ihre Rolle in einer solchen Situation verstehen. Sie arbeiten zwar in einer geschlossenen Abteilung und haben gewisse Kontrollaufgaben gegenüber den Jugendlichen, kennen ihr Grenzen aber ganz genau. So halten sie die Jugendlichen nicht davon ab, aus der Institution abzuhauen. «Auf Kurve» zu gehen könne im Gegenteil ein wichtiger Lernprozess für die Jugendlichen sein, spüren sie die Konsequenzen doch ganz direkt, wenn sie danach von der Polizei nach kurzer Zeit wieder zurückgebracht werden.
Viele dieser Jugendlichen haben vergleichbare Geschichten wie jene, die in den Medien in den letzten Jahrzehnten mit Ausdrücken wie «Kuscheljustiz» ausgeschlachtet wurden. Im Gespräch mit den Jugendlichen wurde mir noch einmal eindrücklich klar, was mir bereits theoretisch bewusst war: Die Straftaten der Jugendliche wurden zwar von ihnen individuell begangen, aber sie wurden dabei entscheidend von ihren biographischen Erlebnissen und ihren aktuellen Lebensumständen beeinflusst.
Möchte man also präventiv gegen Straftaten von Jugendlichen vorgehen, muss man nicht härter bestrafen oder ihre Möglichkeiten beschränken, sondern alles dafür tun, die Lebenssituationen dieser Jugendlichen zu verbessern.
Und das gelingt nur über sozialpolitische Veränderungen.
Einblicke wie diese sind für meine fachliche Grundlagenarbeit von grosser Bedeutung und ich werde mich auch in Zukunft darum bemühen, möglichst viele konkrete Praxiseinblicke zu erhalten. Falls Du denkst, Deine Institution könnte mir auch spannende Einblicke bieten, würde ich mich über eine Mail an t.bockstaller@avenirsocial.ch freuen.
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Internationale Soziale Arbeit und CoVid – Ein Blick über die Grenzen 10.10.2021
Blogbeitrag von Priska Fleischlin, IFSW UN Commissioner (Freiwilligenmandat).
In den vergangenen Monaten zeigten sich gesellschaftliche Spannungen, die für unsere Adressat*innen, aber auch für uns Sozialarbeitende sehr belastend sein können und sich direkt oder indirekt auf unsere Arbeit auswirken. Ich spreche hier nicht über die mediale Darstellung der CoVid-Situation, sondern über Not und Dilemmas, die sich im Alltag offenbaren. Seit die CoVid-19 Pandemie unseren Alltag bestimmt, hat sich der Internationale Berufsverband für Soziale Arbeit (IFSW) öfters und in verschiedenen Gremien geäussert, um den Handlungsbedarf sichtbar zu machen und um uns zu unterstützen. Einzelne Elemente werden hier eingeführt.
Was sich verbessert hat
Als positive Entwicklung wird festgestellt, dass auf internationaler Ebene deutlich mehr Austausch stattfindet, weil nun erstmals ausgiebig die bestehenden virtuellen Möglichkeiten ausgenutzt werden. Die Regionen IFSW Europa und IFSW Africa waren dabei besonders aktiv und stellten mehrere Diskussionen über ihren YouTube-Kanal der Öffentlichkeit zur Verfügung. So berichten Kolleginnen etwa über die Gemeinwesen-Beratung als Lösung für CoVid-Probleme, wobei in Quartieren und kleineren Gebieten eine starke Nachbarschaftshilfe entstanden ist. Die Welt könnte nun etwas von ihnen, von Ubuntu, lernen. Andere berichten über Ethik, Politik aber auch andere Themen wie der Konflikt in Bergkarabach (Armenien – Azarbeijan) und andere davon, was wir aus der Schweiz auch kennen: Armutsbetroffene Menschen werden noch ärmer durch CoVid. Taglöhner*innen dürfen nicht mehr ihrer Arbeit nachgehen und die Gefahr, zu verhungern, wurde grösser, als an CoVid zu erkranken.
IFSW sammelt Erfahrungen und appelliert
Rory Truell, Geschäftsleiter des IFSW, fasst in seinem Bericht die vielen ethische Dilemmas von Sozialarbeitende zusammen. Regierungen verfügen vielerorts über zu wenig Kenntnisse über das Leben der Menschen, die Adressat*innen und über die Soziale Arbeit. Hier ist mehr Offenheit und Wissen nötig. Nun soll die Transformation des Systems stattfinden, meint Rory Truell.
Die globale Ungerechtigkeit bezüglich des Zugangs zu CoVid-Test und Impfungen ist heute, im Oktober 2021, nach wie vor nicht gelöst. Dass die Staaten keine befriedigende internationale Solidarität aufbauen, ist nicht akzeptabel. Während in nördlichen Staaten über die 3.Impfdosis diskutiert wird, stehen südlichen Staaten kaum Impfdosen zur Verfügung. Hier wird eine Chance verpasst, der Welt zu zeigen, dass die Nachhaltigkeitsziele, die globale Gerechtigkeit u.a. das Ziel 10 der Nachhaltigkeitsziele umzusetzen.
IFSW hat einen weiteren Meilenstein geschafft: Zusammen mit Organisationen aus dem Gesundheitsbereich (WFPHA u.a.) und damit mit Millionen von Professionellen die - wie wir - in der Praxis tätig sind, appellierte der IFSW im Jahr 2021 an die G7, bei einer globalen Krise auch eine globale Verantwortung zu übernehmen, ein gutes Gesundheitssystem aufzubauen und nun mit Hochdruck eine soziale Grundsicherung aufzubauen. Ebenfalls soll in dieser Krise die Zusammenarbeit mit der Sozialen Arbeit und weiteren relevanten Akteuren verstärkt werden.
In vielen Events zeigte sich, was wir schon länger wissen: die Aufgabe der Sozialen Arbeit ist es auch, Bindeglied und Übersetzerin zu sein zwischen lokalen Themen, sozialen Problemen und der politischen Agenda.
Ethische Dilemmas
Im August 2021 veröffentlichte der IFSW ein kleines Handbuch, welches Sozialarbeitenden (v.a. studierenden) Anregungen zur Diskussion über ethische Dilemmas infolge der CoVid-Pandemie haben. Ein Beispiel: ein Zentrum in Hongkong bietet Schutz bei häuslicher Gewalt. Dort zeigte sich, dass seit der Pandemie deutlich weniger Menschen das Zentrum aufsuchten, weil sie die strengen Massnahmen fürchteten. Die leitende Person lockerte deshalb die CoVid-Massnahmen. Ist das ethisch oder unethisch? Oder: Was machen, wenn Kinder zur Sozialarbeiterin gebracht werden und sofort eine Pflegefamilie gesucht und gefunden wird, allerdings die CoVid-Massnahmen eine längere Wartezeit verursachen?
Persönlich finde ich, dass noch viel grössere Dilemmas ungelöst sind. Wie viel staatliche Vorgaben setzten wir ungefragt um, obwohl sie mit unseren Überzeugungen oder dem Berufskodex im Argen stehen?
Nach wie vor quält mich der Umstand, über wie lange Zeit Menschen in Behinderten- und Altersheimen (u.a.) isoliert leben mussten. Ich behaupte: die Gleichbehandlung von Menschen mit und ohne zusätzliche Bedürfnisse sowie die Selbstbestimmung hat in manchen Institutionen während der Pandemie gelitten. War dies ethisch korrekt? Weshalb? Decken wir die ungerechte Praxis im Rahmen der CoVid-Massnahmen auf und haben wir die Andersartigkeit unserer Adressat*innen ausreichend anerkennt?
Mein Fazit: In der CoVid-Pandemie zeigt sich, welche systemrelevante Arbeit wir übernehmen. Für die Menschen, mit denen wir arbeiten ist gerade jetzt wichtig zu sehen, welche Lösungen wir zu ethischen Dilemmas erarbeiten. Und: CoVid löst sehr viele Dilemmas aus und verstärkt bereits bestehend
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Hier ist eine Liste von internationalen Beiträgen zu CoVid zu finden: https://www.ifsw.org/covid-19/
IFSW (2021). Pandemic Ethics Resource. Gefunden unter: https://www.ifsw.org/wp-content/uploads/2021/09/2021-08-27-Pandemic-Ethics-Resource-FINAL.pdf
IFSW (2020). Ethical Challenges. Gefunden unter: https://www.ifsw.org/wp-content/uploads/2020/07/2020-06-30-Ethical-Challenges-Covid19-FINAL.pdf
Sexismus in der Jugendarbeit 25.08.2021
Blogbeitrag von Sofia Sommer und Michael Koger, Jugendarbeitende in einer Zürcher Gemeinde
Feminismus, Gleichstellung und LGBTQ – Begriffe, die derzeit in aller Munde sind. Auch bei den Besuchenden des Jugendtreffs. Die Begriffe werden von ihnen jedoch negativ bewertet. Es dominieren patriarchale und oft auch religiös begründete Vorstellungen von Geschlechterrollen oder Sexualität. Wir erleben einen Backlash: Frauen sollen zuhause bleiben und Männer das Geld verdienen, Homosexualität ist eine Krankheit und LGBTQ nur eine Erfindung der Moderne. Gleichstellung rückt in Gesprächen mit Jugendlichen in weite Ferne, wo sie doch gerade noch so erreichbar schien.
Wir sind ein Team von vier Jugendarbeitenden, die sich stetig mit dem Thema Gleichstellung und Geschlecht auseinandersetzen. Wir sind bemüht, alte Rollenbilder aufzuweichen, doch genau damit ecken wir bei den Jugendlichen an.
Sie zelebrieren die für uns veralteten Rollenbilder richtiggehend. Sie lieben es, mit uns zu diskutieren und uns mit ihren Ansichten zu schockieren. Was früher der Joint und vielleicht der rote Irokesenschnitt war, sind heute Sexismus, Homophobie und körperliche Gewalt.
Der Graben zwischen uns Jugendarbeitenden und den Jugendlichen könnte grösser nicht sein. Während dem wir uns Gedanken machen, wie wir in Zukunft die WCs beschriften sollen, damit sich möglichst alle wohlfühlen, erklären uns die Jugendlichen, warum Frauen nicht die gleichen Rechte zustehen wie Männern und warum Schwule verprügelt gehören und Lesben super sind, solange sie Männer an ihrem Sexleben teilhaben lassen. Die daraus resultierenden Diskussionen werden oft emotional geführt. Während wir unsere Errungenschaften durch die Ansichten der Jugendlichen in Gefahr sehen, fühlen sie sich in ihrer Meinungsäusserungsfreiheit eingeschränkt und sehen ihr traditionelles Weltbild bedroht.
Arbeiten wir an der Jugend vorbei? Oder gehen wir mit unserer Arbeit sogar gegen die in der Zürcher Agglo dominierende Jugendkultur vor?
Im Jugendtreff rappen Interpreten wie Gzuz, Koushino oder Farid Bang von Frauen als Schlampen oder Nutten. Die Zeilen sind frauenverachtend: Frauen sollen kochen, putzen und zum Sex zur Verfügung stehen – eine Kampfansage gegen emanzipierte junge Frauen. Diese Musik prägt auch die Sprache der Jugendlichen im Treff. Eine unserer Hausregeln war: Wir tolerieren keinen Sexismus. Wenn wir diese Regel konsequent umgesetzt hätten, wäre der Jugendtreff ziemlich bald leer gewesen. Neu heisst die Regel: Sexismus wird mit den Jugendlichen thematisiert. Aber wie sollen wir ihnen erklären, dass Frauen und Männer gleichberechtigt sind, während im Hintergrund darüber gerappt wird, wie geil es ist, Frauen zu vergewaltigen?
Die Auseinandersetzung mit Rollenbildern, mit Sexualität und mit sich selbst in der Adoleszenz kostet die Jugendlichen viel Energie und ist mit viel Reibung verbunden. Dessen müssen wir uns als Jugendarbeitende bewusst sein. In diesem Prozess können wir die Jugendlichen unterstützen, indem wir ihnen als Vorbilder dienen und indem wir ihnen eine Reibungsfläche bieten und die immer wieder anstrengenden Diskussionen mit ihnen weiterführen.
Wir Jugendarbeitenden sind in der stetigen Reflexion unserer Haltung bezüglich Sexismus. Im Anschluss an Diskussionen mit Jugendlichen stellen wir unsere Haltung auch mal in Frage: sind wir einfach zu alt, um Jugendkultur richtig zu verstehen? Doch wir kommen immer wieder zum gleichen Entschluss: wir sind nicht bereit, Sexismus zu tolerieren. Es ist ein nervenaufreibender Kampf, doch es ist ein Kampf der sich für uns alle lohnt. Und am Ende profitieren auch die krassen Jungs aus dem Jugendtreff in der Zürcher Agglo von einer feministischen Zukunft!
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Der Blog wiederspiegelt die persönlichen Haltungen der BeitragsautorInnen.