Berufsverband Soziale Arbeit Schweiz

Es mangelt nicht an Fachkräften, sondern an guten Arbeitsbedingungen!

Organisationen im Asylwesen haben Mühe, ihre Stellen zu besetzen. Was sind die Gründe für den Personalmangel und die hohen Fluktuationen? Das Forum für kritische Soziale Arbeit kriso analysiert entscheidende Faktoren.

Seit dem Ausbruch des Ukrainekriegs im Februar 2022 sind die Zustände im Schweizer Asylwesen wieder vermehrt in den Schlagzeilen. In diesem Zusammenhang wurde wiederholt der Personalmangel in diesem Bereich thematisiert (siehe SRF, 26. Oktober 2022 oder Tages-Anzeiger, 7. März 2023). Die zwei grössten im Asylwesen tätigen Organisationen, AOZ und ORS, führen dies auf die hohen Anforderungen der Arbeit mit Geflüchteten zurück. Im folgenden Artikel wird dieser Aussage nachgegangen und genauer hingeschaut, welche Gründe dem Personalmangel und der hohen Fluktuation zugrunde liegen.

Der Begriff des Fachkräftemangels verschleiert die Ursachen und die Verantwortung der Politik und der Unternehmen.

Die Soziale Arbeit spielt eine zentrale Rolle im Schweizer Asylwesen. Hier angekommen, kennen Geflüchtete oftmals weder die Sprache, noch verfügen sie über ökonomisches oder soziales Kapital. Ihre finanzielle Unterstützung liegt wesentlich unter dem sozialen Existenzminimum, und das Leben in Kollektivunterkünften an zum Teil abgelegenen Orten mit wenig Privatsphäre erschwert zusätzlich gesellschaftliche Teilhabe. Damit werden bereits grundlegende Bedürfnisse missachtet. Den damit verbundenen Herausforderungen soll mittels Unterstützung von Sozialarbeitenden begegnet werden.

Neben den fehlenden Ressourcen für die Geflüchteten fehlt auch das Geld für genügend ausgebildetes Personal. Neben politischen Gründen hängt dies auch mit der Ökonomisierung der Sozialen Arbeit zusammen. So kritisiert die Kriso seit Jahren (siehe New Public Management in der Sozialen Arbeit. Eine Kritik.), dass durch die Ausschreibung von Leistungsverträgen eine Konkurrenzsituation geschaffen wird. Dies führt zu einem Kostendruck seitens der Anbieter, die die Aufträge möglichst günstig ausführen müssen. Verstärkt wird dieser Effekt durch das profitorientierte, private Unternehmen ORS (Beitrag der Kriso in SozialAktuell 4/2021). Die Folgen sind Einsparungen beim Personal.

Eine Sozialarbeiterin, die mit minderjährigen Geflüchteten gearbeitet hat, fasst die Situation wie folgt zusammen:

«Uns fehlte die Zeit, um Aushandlungsprozesse im Team zu führen, geschweige denn mit den Jugendlichen wirklich pädagogisch zu arbeiten. Eine Folge davon war ein autoritärer Führungsstil. Es ging schneller, Entscheidungen top down zu fällen, als im Team partizipativ nach Lösungen zu suchen. Das machte mich sehr unzufrieden. Gleichzeitig hatte ich keine Zeit, die Jugendlichen angemessen zu unterstützen. Den Jugendlichen blieb damit oft nur noch, laut und gewalttätig zu werden, um Aufmerksamkeit zu erhalten und so ihre Unterstützung und Rechte einzufordern. Ich rannte von Notfall zu Notfall.»

Ein ähnliches Problem zeigt sich bei der Sozialberatung der AOZ in der Stadt Zürich. Viele Personen mit Schutzstatus S haben keine zuständigen Sozialarbeitenden, sondern erhalten nur in sogenannten Notfällen Unterstützung. So schildert eine Fachperson der Sozialen Arbeit die Zustände aktuell als nicht tragbar:

«Geflüchtete aus der Ukraine mussten in Zürich in der Warteschlange für die (Notfall-)Sprechstunde anstehen. Die Sozialarbeitenden führten nebst dem bereits vollen Arbeitsalltag regelmässig zusätzliche Beratungen im Rahmen der Ukrainesprechstunde durch. Wir versuchten, uns in kürzester Zeit ein Bild der individuellen und teilweise komplexen, mehrschichtigen Situationen zu verschaffen und möglichst schnell einfache Lösungen zu finden. Dabei konnten nur die dringlichsten Probleme bearbeitet werden. Unter diesem Zeitdruck ist professionelle Soziale Arbeit nicht möglich, was sehr frustrierend ist. Der anhaltende Stress setzte vielen Fachkräften zu.»

Für die Geflüchteten hat sich diese Situation seit dem 1. März 2023 noch verschärft, da das Angebot abgeschafft wurde. Sie erhalten nur noch per E-Mail Unterstützung (Stand 15. März 2023).

Diese Arbeitsbedingungen hält niemand lange aus.

Beide Fachpersonen betonen, wie gerne sie mit den Geflüchteten arbeiten, aber nicht ansatzweise ihrem Anspruch als Sozialarbeitende gerecht werden können. So verkommen die Ziele gemäss dem Berufskodex zu leeren Worthülsen, denn auf die Notlagen der Geflüchteten kann so nicht angemessen eingegangen werden. Dass diese Ziele in der Praxis in weite Ferne gerückt sind, steht für ein systematisches Versagen. Die Folgen dieses Versagens sind hohe Qualitätseinbussen in der Betreuung der Geflüchteten und eine zunehmende Überlastung und Unzufriedenheit der Mitarbeitenden. Viele engagierte Sozialarbeitende leisten unzählige Überstunden, um dies zu kompensieren. Wer die Möglichkeit hat, in ein anderes Arbeitsfeld zu wechseln, tut das. Denn wie die Person aus Zürich sagt: «Dies hält niemand lange aus!» Die Folge ist eine hohe Fluktuation.

Es nützt also nichts, jedes Jahr mehr und mehr Fachkräfte an den Hochschulen auszuspucken, wenn sie einige Jahre später das Feld überarbeitet und frustriert wieder verlassen. Es ist falsch, der hohen Anzahl Geflüchteter die Verantwortung dafür zu geben, sondern es kann und will niemand langfristig unter diesen Bedingungen arbeiten. Der viel verwendete Begriff des Fachkräftemangels verschleiert die Ursachen und die Verantwortung der Politik und der Unternehmen, die seit Jahren auf dem Rücken von Arbeitskräften und Adressat*innen der Sozialen Arbeit ihre Sparmassnahmen durchführen.

Die Kriso fordert eine grundsätzliche Umstrukturierung des Schweizer Asylwesens und mehr finanzielle Mittel für die Soziale Arbeit. Nur so entstehen Arbeitsbedingungen, unter denen Fachkräfte auch langfristig arbeiten wollen und können. Es braucht genügend Zeit und passende Rahmenbedingungen, die eine tatsächliche Soziale Arbeit ermöglichen und die Klient*innen nicht einfach nur verwaltet, sondern professionell, würdevoll und angemessen unterstützt. In diesem Sinne: Es mangelt nicht an guten Fachkräften, sondern an guten Arbeitsbedingungen.


Zur Autor*innenschaft

Dieser Artikel ist in Zusammenarbeit mehrerer Personen der Kriso Zürich – Forum für kritische Soziale Arbeit – entstanden. In der Kriso engagieren sich Sozialarbeitende für eine kritische Soziale Arbeit und für eine sozial gerechtere Gesellschaft. Sich kritisch zu Prozessen innerhalb der Sozialen Arbeit zu äussern, bedeutet immer ein Risiko für die Personen, die sich exponieren. Die Kriso veröffentlicht ihre Artikel deshalb als Kollektiv und nicht im Namen einzelner Personen. Weitere Infos und Kontakt: kriso.ch


Ein Artikel aus SozialAktuell 5/2023, «Betreuung von Geflüchteten und die Aufgabe der Sozialen Arbeit». Bestelle einzelne Ausgaben in unserem Online-Shop, oder abonniere die Fachzeitschrift, damit du keine Ausgabe mehr verpasst. Das Abo ist auch inbegriffen in der Mitgliedschaft beim Berufsverband.