Berufsverband Soziale Arbeit Schweiz

Von der Praxis inspirieren lassen – Mein Besuch in einer geschlossenen Abteilung

Von der Praxis inspirieren lassen – Mein Besuch in einer geschlossenen Abteilung 06.12.2021

Blogbeitrag von Tobias Bockstaller, Verantwortlicher Fachliche Grundlagen, AvenirSocial. Als Verantwortlicher Fachliche Grundlagen von AvenirSocial wirkt mein Arbeitsort eigentlich nicht sehr spannend. Meist bin ich im Büro am Computer, muss viel hirnen, lesen und schreiben. Trotzdem muss meine Arbeit so nahe...

Blogbeitrag von Tobias Bockstaller, Verantwortlicher Fachliche Grundlagen, AvenirSocial.

Als Verantwortlicher Fachliche Grundlagen von AvenirSocial wirkt mein Arbeitsort eigentlich nicht sehr spannend. Meist bin ich im Büro am Computer, muss viel hirnen, lesen und schreiben. Trotzdem muss meine Arbeit so nahe wie möglich an der Praxisrealität unterschiedlicher Arbeitsbereiche der Sozialen Arbeit bleiben. Mittlerweile weiss ich, dass genau dieser Spagat die grösste Herausforderung meiner aktuellen Funktion bei AvenirSocial ist. Ich habe mir daher verschiedene Möglichkeiten überlegt, diese Praxisnähe aufrecht zu erhalten. Eine davon ist, dass ich mehrmals pro Jahr tageweise Institutionen im Bereich der Sozialen Arbeit besuche. Dies ermöglicht mir, im direkten Kontakt mit Fachpersonen und Adressat*innen, den Einblick in Themen, die sie im Alltag bewegen. Für meinen letzten Besuch konnte ich einen Tag lang auf einer geschlossenen Abteilung für Jugendliche in zivil- und strafrechtlichen Massnahmen mitarbeiten. Ich war vor dem Besuch ziemlich angespannt, da ich keine Ahnung hatte, was mich an diesem Tag erwarten würde. Zwar habe ich als Soziokultureller Animator lange mit Jugendlichen gearbeitet, allerdings immer im freiwilligen Rahmen und nie in einem Zwangskontext.

Als ich vor Ort ankam, war ich überrascht, wie schnell und unkompliziert ich in den Tagesablauf eingebunden wurde.

Ich durfte in allen Momenten, wie Übergaben, Gruppenstunden, Essen, Freizeit und Tagesrückblicken vorbehaltlos dabei sein und aktiv teilnehmen. Ich fühlte mich als Fachperson sofort integriert und ernstgenommen. Trotz dieser geschlossenen Strukturen und den Hintergründen der Jugendlichen, häufig mit Heim-Biografien und einschneidenden, schweren Straftaten, habe ich mich im Umgang mit ihnen von Anfang an wohl gefühlt. Es schien mir, als ob viele Umgangsformen und Arbeitsweisen, die ich aus dem freiwilligen Kontext kenne, auch in diesem Setting genauso funktionierten. Ich kam sehr schnell mit ihnen ins Gespräch und ich war auch über den offenen Umgang der Jugendlichen mit ihren eigenen Taten erstaunt. Man merkte, dass sie sich täglich mit ihren begangenen Taten auseinandersetzen müssen. Oft vergass ich, dass wir uns in einem geschlossenen Setting befinden und sprach die Jugendlichen auf positive Momente in ihrem Alltag an. Sie meinten dann jeweils mit einer guten Portion Ironie, ob ich vergessen habe, dass sie hier eingeschlossen seien.

Gleich zu Beginn wurde mir erklärt, dass die Jugendlichen gelegentlich «auf Kurve» gehen. Doch wie kann das in einer geschlossenen Abteilung möglich sein? Und wie gehen die Sozialpädagog*innen damit um? Je nachdem wie «gut» sich die Jugendlichen verhalten, dürfen sie nach einer bestimmten Zeit wieder gemeinsam mit den Sozialpädagog*innen ausserhalb der Institution Sport machen. Dies bietet die Möglichkeit zu türmen. Ich bin schwer beeindruckt, mit welcher Selbstverständlichkeit und Professionalität die Mitarbeitenden ihre Rolle in einer solchen Situation verstehen. Sie arbeiten zwar in einer geschlossenen Abteilung und haben gewisse Kontrollaufgaben gegenüber den Jugendlichen, kennen ihr Grenzen aber ganz genau. So halten sie die Jugendlichen nicht davon ab, aus der Institution abzuhauen. «Auf Kurve» zu gehen könne im Gegenteil ein wichtiger Lernprozess für die Jugendlichen sein, spüren sie die Konsequenzen doch ganz direkt, wenn sie danach von der Polizei nach kurzer Zeit wieder zurückgebracht werden.

Viele dieser Jugendlichen haben vergleichbare Geschichten wie jene, die in den Medien in den letzten Jahrzehnten mit Ausdrücken wie «Kuscheljustiz» ausgeschlachtet wurden. Im Gespräch mit den Jugendlichen wurde mir noch einmal eindrücklich klar, was mir bereits theoretisch bewusst war: Die Straftaten der Jugendliche wurden zwar von ihnen individuell begangen, aber sie wurden dabei entscheidend von ihren biographischen Erlebnissen und ihren aktuellen Lebensumständen beeinflusst.

Möchte man also präventiv gegen Straftaten von Jugendlichen vorgehen, muss man nicht härter bestrafen oder ihre Möglichkeiten beschränken, sondern alles dafür tun, die Lebenssituationen dieser Jugendlichen zu verbessern.

Und das gelingt nur über sozialpolitische Veränderungen.

Einblicke wie diese sind für meine fachliche Grundlagenarbeit von grosser Bedeutung und ich werde mich auch in Zukunft darum bemühen, möglichst viele konkrete Praxiseinblicke zu erhalten. Falls Du denkst, Deine Institution könnte mir auch spannende Einblicke bieten, würde ich mich über eine Mail an t.bockstaller@avenirsocial.ch freuen.

Wir freuen uns über Rückmeldungen und Deine Meinung zum Blog - blog@avenirsocial.ch

 

Der Blog wiederspiegelt die persönlichen Haltungen der BeitragsautorInnen.