Berufsverband Soziale Arbeit Schweiz

Wir brauchen eine rassismuskritische Jugendarbeit

Wir brauchen eine rassismuskritische Jugendarbeit 24.08.2022

Blogbeitrag von Sofia Sommer, Jugendarbeitende in einer Zürcher Gemeind Arbeit in einem Jugendtreff ist kein Germanistikseminar. Sexistische und homophobe Beleidigungen sind Teil einer mitunter derben Jugendsprache, welche zum herausfordernden Alltag von Jugendarbeitenden gehört. Das musste ich in meinem Praktikum in...

Blogbeitrag von Sofia Sommer, Jugendarbeitende in einer Zürcher Gemeind

Arbeit in einem Jugendtreff ist kein Germanistikseminar. Sexistische und homophobe Beleidigungen sind Teil einer mitunter derben Jugendsprache, welche zum herausfordernden Alltag von Jugendarbeitenden gehört. Das musste ich in meinem Praktikum in diesem Arbeitskontext schnell lernen. Sprache, die grundsätzlich mit den Werten des Hauses im Widerspruch steht. Deshalb wurden solche Auseinandersetzungen nicht selten Wort für Wort in unserem Team nachbesprochen und über verbale Grenzziehungen nachgedacht.

«Nicht nur R. spricht so, alle sprechen so. Das ist Jugendsprache.»

In einer dieser Teamsitzungen wurde folgende Aussage des Jugendlichen R. (15) nachbesprochen: «Ey, lueg dich a du Schlampe. Was man du wotsch mir de Billardschläger weg ne? Was meinsch du wer du bisch? Du seisch mir gar nüt!» R. verstiess nicht zum ersten Mal gegen die Hausordnung; bedrohte andere Besuchende; deutete an, dass er bewaffnet sei; musste deshalb unseren Jugendtreff verlassen; worauf er die Jugendarbeiterin, die ihn dazu aufforderte, wüst beschimpfte. Die Diskussion in unserem Team lief über alle Ecken möglicher Perspektivierungen: von «R. entstammt schwierigen familiären Verhältnissen, hat Leistungsschwierigkeiten und ist aktenkundig» zu «Nicht nur R. spricht so, alle sprechen so. Das ist Jugendsprache.» bis hin zu «Er will einfach schockieren. Er sucht Reibung, Aufmerksamkeit.». Was mich jedoch völlig perplex zurück liess, war der Kommentar der Jugendarbeiterin: «R. hat einen Migrationshintergrund und damit ein anderes Frauenbild. Das ist seine Kultur – wir können nicht einfach unsere westlichen Massstäbe für ihn anwenden.»

Die Situation zeigte mir, wie leicht, unbeabsichtigt und in ihrer Wirkung dennoch verheerend solche Aussagen getätigt werden. Problematisch ist die Aussage deshalb, weil das Label «mit Migrationshintergrund» in dieser Verwendung rassistisch ist. Die Jugendarbeiterin ordnete R. aufgrund von äusseren Merkmalen einer homogenisierten Gruppe zu und verknüpft diese mit kulturspezifischen Eigenschaften bzw. einem spezifischen Verhalten.

Rassistische Denk- und Handlungsmuster funktionieren deshalb, weil sie die menschliche Schwäche für Muster zur Komplexitätsreduktion und beschleunigten Wahrnehmung der Realität ausnutzt.  Dazu kommt, dass diese Kategorien hierarchisch geordnet sind. Jugendliche, die der Gruppe «mit Migrationshintergrund» zugeordnet sind, werden anders bewertet; indem vermeintlich gruppentypische Attribute aktiviert werden. So wird ihnen bspw. ein anderer Umgang mit Frauen zugeschrieben, der mit der vermuteten Zugehörigkeit zu einer patriarchalen und frauenverachtenden Kultur begründet wird (El-Mafaalani, 2021, S. 59; Bronner & Paulus, 2017, S. 57-58).

Damit ist es nicht das sexistische Verhalten von R., das verschiedene Ursachen haben kann, sondern das kulturtypische Verhalten einer Gruppe von Menschen, welcher der junge Mann aufgrund äusserlicher Merkmale zugeordnet wird. Solche Kategorisierungen funktionieren ungeachtet des Vorzeichens des sozialen Verhaltens. Erbringt ein Jugendlicher «mit Migrationshintergrund» eine gute Leistung, so wird auch diese oft einer fiktiven kollektiven Kompetenz, «seiner Kultur» zugeschrieben: L. kocht gut, weil er Italiener ist; S. tanzt gut, weil sie Kamerunerin ist; V. singt gut, weil er Spanier ist.

Rassismus beeinflusst die Mitte der Gesellschaft und damit auch die Jugendarbeit.

Eine kritische Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, in welche Jugendarbeit eingebunden ist und die Arbeit an rassistisch geprägten Vorstellungen ist dringend notwendig. Das Erkennen und Verändern von eigenen rassistischen Denk- und Handlungsmustern ist dabei eine besondere Herausforderung. Um Jugendlichen glaubhaft Werte zu vermitteln, ist eine Haltung, die jegliche Formen von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ablehnt, unerlässlich Um diese Vorbildfunktion wahrzunehmen, sollten Sozialarbeitende folgende vier Forderungen an sich stellen:

  • Ich verstehe eine diskriminierungskritische Haltung als Bestandteil meiner Professionalität
  • Ich habe grundlegendes Wissen über Rassismus und kenne die typischen Erscheinungsformen von Rassismus im Alltag
  • Ich erkenne meine eigene Involvierung: vereinfachende Welterklärungen und vorurteilbehaftetes Denken, das Jugendliche als «Andere» markiert
  • Ich entwickle eine eigene Haltung gegen Rassismus

Hätte ich damals schon die nötigen Worte gehabt, hätte ich interveniert.

Denn wollen wir tatsächlich gegen Rassismus vorgehen, müssen wir diesen an den – strukturellen und institutionellen – Wurzeln packen. Indem wir Personen wie R. als Menschen auf untragbaren Sexismus ansprechen; und Kolleginnen wie diese Jugendarbeiterin auf den unterschwelligen Rassismus hinweisen. Nur so werden wir meiner Meinung nach Menschen als Individuen gerecht.

 

Dieser Blog von Sofia Sommer basiert auf dem Essay: «mit Migrationshintergrund» ist ein problematisches Label, verfasst im Rahmen des Moduls Gesellschaftliche Transformationsdynamiken und Migration an der OST – Ostschweizer Fachhochschule für Soziale Arbeit.

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